Teezeremonie in Bonn

Fotos: Lilian Szokody / Literaturhaus Bonn

Pakistanische Kühe.

 

Unmittelbar neben den Gebäuden der University of Culture and Arts in Lahore, befindet sich ein Kuhstall. Jedes Mal, wenn ich vom Parkplatz zum Eingang gehe, weht mir an einer bestimmten Stelle der Geruch von Kühen in die Nase. Im selben Moment tauchen leicht verwackelte Bilder aus dem Dorf Hönnepel vor meinem inneren Auge auf. Der Geruch von Kühen war mir schon vertraut, lange bevor ich das Wort für sie kannte. Sie weideten unmittelbar neben unserem Haus, oft habe ich halbe Tage im Kuhstall meines Onkels oder des Nachbarbauern verbracht. Jetzt, hier, identifiziert mein Bewußtsein den Geruch nicht sofort als Ursache des Empfindungssprungs, so dass ein sonderbarer Moment vollständiger Irritation entsteht: Ich bin an einer pakistanischen Universität und fühle mich, als wäre ich zurück am Niederrhein meiner Kindheit. Dort bin ich später fortgegangen, weil ich die große weite Welt sehen wollte. - Bevor ich all das ordentlich auseinander dividiert und in korrekte Begründungszusammenhänge gestellt habe, sind sämtliche Widersprüche für Sekundenbruchteile aufgehoben. 

Farbe und Form. Licht und Schatten.

 

Auch in anderen Ländern ist das Abstrakte konkret. Wobei die Frage wäre, ob zum Beispiel auf Hindi die begriffliche Unterscheidung überhaupt sinnvoll möglich ist, handelt es sich doch bei Beidem um sprachliche Abstraktionen, denen womöglich gar nichts Konkretes entspricht, so dass keine unbedingte Notwendigkeit besteht, die entsprechenden Wörter in die Welt zu setzen, anders als zum Beispiel für Wasser oder für Feuer. Was folgt daraus? Vermutlich nichts. 

Erwartungen.

 

Ich bin mehrere Stunden durch die Stadt gefahren und habe keine einzige Kuh gesehen und auch keinen halbnackten Sadhu mit langem Bart. Jetzt frage ich mich, ob man mir Lügen erzählt hat oder ob ich vielleicht gar nicht im richtigen Indien bin. Andererseits sieht man in Köln auch nicht immer den Dom, obwohl er deutlich größer ist als eine Kuh, zumindest unter bestimmten Rücksichten - bei den Sadhus bin ich mir da nicht sicher, nach allem, was ich über sie gehört habe - angeblich können manche sich ja sogar unsichtbar machen.

Menschenbilder.

Bilder von Menschen erfreuen sich im Allgemeinen größerer Beliebtheit als Bilder von Sachen oder Gebäuden. Allerdings hält sich die Begeisterung der Leute, wenn sie von einem Fremden ohne erkennbaren Grund fotografiert werden, meist in Grenzen. Fotografiert man zur Hauptverkehrszeit im Bahnhof von Mumbai, sind zwangsläufig Menschen im Sucher, aber natürlich ist es trotzdem nur teilweise Zufall, wer am Ende auf dem Bild erscheint.

Ich stelle mir vor, ich säße im Berliner Hauptbahnhof, würde auf einen Zug nach Wattenscheid warten (warum Wattenscheid - da war ich noch nie), ein unbekannter Inder käme und würde unauffällig seine Kamera auf mich richten... Wahrscheinlich würde ich lächeln und ihm winken. Wenn er ich wäre, hätte ich ihm sein Bild damit allerdings ruiniert.

 

Flugmodus.

Natürlich fliegt er. Das Dumme ist nur, einer seiner Vorbesitzer hat das Schlüsselwort verschlampt. Jetzt sitze ich hier und weiß nicht einmal, in welcher Sprache ich suchen soll.

Keine Chawan.

Schale, Nishapur (Iran), 10.-11. Jahrhundert, The Bumiller Collectiion, Studio Berlin

Chawan.

Japanische Teeschale, schwarze Rakuglasur, 19. Jahrhundert.

Erscheinung.

Wer sagt denn, dass es keinen Schatten gibt, nur weil das Licht aus ist.

Zersplitterung.

Zersplitterung und Zerstückelung haben jetzt auch die Plakatwände erreicht.

Baustellen 2

 

Jenseits von Lärm, Staub und Gestank können Baustellen durchaus Museumsqualität haben.

 

 

Angst.

Zurück in Berlin treffe ich meinen vietnamesischen Gemüsehändler auf der Straße, erzähle ihm, dass ich in Pakistan war, dass ich auf jeden Fall wieder hinfahren will, dass überhaupt keine Touristen dort sind, die wunderbarsten Orte komplett leer, "haben halt alle Angst."

"Pffh, Angst", sagt er und schüttelt den Kopf. "Ist doch Quatsch. Man weiß sowieso nie was passiert, oder?!"

Mangroven.

Es gibt Mangroven, und man kann sich kurz fühlen wie ein Britischer Kolonialoffizier (was sich nicht gehört), dann treiben drei Tüten Müll mit dem abfließenden Wasser vorbei an zwei echten Marines, deren Schlauchboot wegen eines Motorschadens abgeschleppt werden muss.

Sport.

Sehr beliebt bei jungen Männern und Frauen ist der Rudersport.

Platzierungen.

Pakistan soll ja das "gefährlichste Land der Welt" sein, hat neulich ein deutscher Nachrichtenmagazinreporter in einem Buchtitel behauptet. An anderer Stellen kann auch von Platz 4 oder 11 die Rede gewesen sein. Es gibt außerdem "die wichtigste französische Künstlerin" und "das beste Buch des Jahres". Die pakistanischen Restauratoren würde ich auf jeden Fall unter die 10 Besten der Welt wählen, zwischen Platz 1 und 3 - ganz egal, wie gefährlich sie sind.

Shah Abdul Latif Bhittai.

Qawwali-Sänger am Grab des großen Suif-Heiligen und Dichters Shah Abdul Latif Bhittai in Bulri. Klänge, Rhythmen, Stimmen, wie ich sie noch nie gehört habe. Einmal mehr der Gedanke, wie öde und leer die Welt wäre, wenn alle so leben und denken würden wie wir heute bei uns - oder auch nur so ähnlich.

Lahore/Pakistan.

Es sind Menschen beiderlei Geschlechts und verschiedenen Alters auf den Straßen zu sehen. Sie gehen diversen Tätigkeiten nach, die selbst dem voreingenommenen Betrachter auf den ersten Blick unverdächtig, um nicht zu sagen normal erscheinen. Einige haben es eilig, für andere spielt Zeit keine Rolle. Manche wirken zufrieden, manche nicht. Die bissigen Hunde scheinen aus der Stadt heraus gedrängt worden zu sein.

Die Freiheit

Auch wenn das mit der Freiheit am Hindukush nicht so richtig geklappt hat... Dahinter geht es weiter. Es leben Menschen dort, man kann sie besuchen, mit ihnen reden, und ihre Vorfahren hatten richtig gute Bauleute.

Der Patriarch aus dem Westen

Das ist Bodhidharma, der Begründer des Chan- oder Zen-Buddhismus. Er ist eben mit der Post aus Japan eingeflogen und sitzt jetzt auf meinem Schreibtisch, um mich Tag für Tag daran zu erinnern, dass Religion auch lustig sein kann.

Wetter&Zen

Im Prinzip muss man als aufgeklärter Mensch natürlich davon ausgehen, dass das Wetter völlig unabhängig von einem selbst ist, obwohl es im Lebenszeit/Beschäftigungsdauer-Quotienten mutmaßlich kaum einen Themenbereich gibt, der mehr Raum einnimmt. Vielleicht ist es aber auch falsch, die Wetterverhältnisse im Satellitenbild und seiner meteorologischen Interpretation für wirklicher zu halten als die Spiegelung des morgendlichen Nieselregens in der eigenen Gestimmtheit. Huineng, der 6. Patriarch des Zen, hätte womöglich behauptet, dass der Nieselregen nur wegen meiner Gestimmtheit das ist, was er ist. Damit gilt meinerseits nun allerdings erst recht keine Entschuldigung mehr.

 

Materialeigenschaften

Wenn ich jetzt, nach getaner Arbeit, hier sitze und aus dem Fenster schaue, wo das Laub die vorgegebene Entwicklung nimmt, frage ich mich, warum kein Walzglas und keine Doppelfenster mit großen Zwischenräumen mehr eingebaut werden, die der Außenwelt und meiner Wahrnehmung ebenso schön wie unerbittlich ihre Berechenbarkeit nehmen.


Goldenes Licht

Das also ist der heutige Blick vom Balkon meiner Wohnung in der Stadt Berlin, wo ich nunmehr meinen Re-Integrationsprozess begonnen habe oder beginnen muss. All das wird mit einer gewissen Mühe verbunden sein, da ich mich als Fremder am Ende doch sehr zu Hause gefühlt habe, während es zu Hause schon früher oft umgekehrt war. Interessant wäre herauszufinden, was geschehen würde, wenn ich in der Fremde bliebe, bis ich dort ganz heimisch geworden wäre. Doch womöglich würde ich es erst bemerken, wenn ich mich wieder fremd fühlte, und dann wäre es für Erkenntnisgewinne zu spät.

 

Sehr vage das alles.

Abschiede liegen mir nicht. Möglicherweise bringt ein Hund im Regen etwas davon zum Ausdruck. Falls ja, handelt es sich jedoch nur um einen winzigen Ausschnitt dessen, was auf den Scheiben eines technisch einwandfreien Empfindungstomogramms sichtbar wäre. Zu allem Überfluss ist der nasse Hund unscharf. Aber wer weiß: Vielleicht kommen wir der Sache so näher als hochaufgelöst und präzise ausgeleuchtet. Mittlerweile ist es ganz dunkel dort draußen, der Regen so viel lauter als bei Licht.


Festbeleuchtung.

Auf der Istiklal Çaddesi, der zentralen Istanbuler Einkaufsstraße, wurde inzwischen die Weihnachtsbeleuchtung installiert. Die türkische Kollegin A. ist kurz fest davon überzeugt, dass es sich um eine Dekoration anlässlich des Bayram-Festes handeln muss, das allerdings gestern zu Ende gegangen ist und außerdem keinerlei Verbindung zu Sternen und Schneeflocken hat. In Berlin habe ich letzte Woche die ersten Lebkuchen und Marzipankartoffeln im Supermarkt gesehen. Wo will ich denn bloß hin?


Harte Fakten.

Bevor noch der Eindruck entsteht, dies sei eine Theater-heute-online-Sonderausgabe „Istanbul“, eleminieren wir alle Fiktionen und Metafiktionen, Anspielungen, Verweise, Bezüge: Ich saß auf dem Schiff und wartete, dass es ablegte. Der Mond schien, letzte Passagiere zogen ihre Verkehrsverbundskarten über das Lesegerät am Drehkreuz, was synthetische Lautfolgen verursachte. Mein Nebenmann hielt über sein Mobiltelefon mit verschiedenen Leuten Kontakt. Alle Geheimnisse der Nacht lagen offen da. Nicht einmal der Rettungsring an der Wand sollte etwas ausdrücken, was über ihn hinausgewiesen hätte.

Farben folgen.

Ich weiß nicht, ob und wenn ja welchen Platz die Farbe Lila in der Türkei innerhalb einer symbolischen Farbordnung einnimmt. Sowieso wäre eine Komposition, in der Teile einer Hausfassade, frisch gewaschenes Bettzeug, eine Kittelschürze und die Beschriftung einer Satellitenschüssel nahezu denselben Farbton hätten, reichlich überambitioniert. Als Zufall hinwiederum würde sie dem geschulten Betrachter ganz unglaubwürdig erscheinen. Ich habe jedenfalls mit keinem der Beteiligten Absprachen getroffen, obwohl ich prinzipiell für einen besseren Bildaufbau weder Kosten noch Mühen scheue. Im Endeffekt machen die Leute ja doch, was sie wollen, aber wenn man genau hinschaut, ist es kaum möglich, etwas Bestimmtes über den letzten Grund zu sagen.


Straßentheater.

Ganz gleich ob mit oder ohne Verständnis und auch in Becketts Stücken spielen Stühle eine bedeutende Rolle bei der Auslotung von Sinn und Unsinn der menschlichen Existenz. In Kairo beispielsweise gibt es ein großangelegtes Projekt, in dem Straßenstühle photo- und kartographisch erfasst werden. Kaum ein anderes Möbelstück bietet dem Betrachter vergleichbare Möglichkeiten der Identifikation, dabei gibt es nahezu keine zweibeinigen Stühle. Andererseits hat man nie davon gehört, dass zum Beispiel eine Giraffe oder auch nur ein Reh sich selbst in einem Stuhl gespiegelt gefunden hätte, obwohl das – abgesehen von den Gefühlen – eigentlich viel näher läge. Würde ich mir jetzt einen Stresemann anziehen, eine Melone auf den Kopf setzen und dergestalt ins Bild treten, wäre es selbst in meinem neuerlichen Schweigen eine für jeden nachvollziehbare Aussage, unabhängig von ihrer jeweiligen Deutung. So einfach ist es nämlich im Grunde.


Niemand hier und da.

Was wollte ich sagen? –

Gestern Mittag schaute mich die Frau am Pegasus Airlines Schalter in Berlin Schönefeld sonderbar an und sagte: „Tut mir leid, aber Turkish Airlines fliegt von Tegel.“

Solche Dinge passieren. Zum Glück waren die Himmlischen Mächte mir wohlgesonnen, überantworteten mich einem unerschrockenen Taxifahrer und hielten die Strecke frei, so dass ich bereits dreizwanzig Minuten später an den Turkish Airlines Schalter im Flughafen Tegel trat und immer noch reichlich Zeit hatte, meinen Koffer aufzugeben.

Heute Abend stehe ich am Bootsanleger der Şehir Hatlari in Üşküdar und warte auf die Fähre nach Beşiktaş, obwohl ich lieber nach Eminönü fahren würde. Unmittelbar vor mir wird ein unbekanntes Beckett-Stück mit dem Titel „Wechselfall“ aufgeführt, in dem ich einziger Schauspieler und Zuschauer zugleich bin. Die überraschende Wendung des Stückes liegt darin, dass ich vom ersten Schweigen an gar nicht darin vorkomme, es aber nicht merke, da der, der mir zuschauen soll, nach wie vor in Berlin ist und zu sich selbst spricht. –

Kein Wunder, dass niemand etwas versteht.

Untiefe.

Während der ersten Wochen hier spielte der Regen eine erhebliche Rolle, dann trat er in den Hintergrund, wurde zum Piktogramm und Symbol unzuverlässiger Wettervorhersagen. Heute mit dem ersten Schritt aus dem Flughafengebäude ist er wieder da, und noch immer stellt sich die ältere und grundsätzliche Frage, ob die Thematisierung des Wetters Indiz für einen ganz und gar banalen Geisteszustand ist oder vielmehr Ausweis der wachsenden Fähigkeit sich im Hier und Jetzt mit nichts als dem Hier und Jetzt zu beschäftigen. Sowieso hat es längst wieder aufgehört zu regnen. Ich bin oder wäre sogar mit dem Banalsten zu spät.


Indizien und Beweismittel.

Wenn man so ganz von woanders her hergekommen und fast schon fremd ist zu Hause, springt dies und das ins Auge: War das nun die DDR oder der alte Westen, und woran erkenne ich, dass ich tatsächlich hier und heute in der Gegenwart dieses Jahrtausends bin und nicht früher drüben, rechts oder links der Mauer, der Spree, der Grenze zwischen atlantischem und kontinentalem Klima. Zumindest könnten wir aus sentimentalen Gründen - positiven oder negativen - kurz so tun als ob. Dann kehrt der Mann von der Spurensicherung aus dem Labor zurück und kann uns klipp und klar sagen, wann und wo welche der verwendeten Farben hergestellt wurde.


Heimkehr vorab.

Noch immer gibt es Mauerreste in Berlin, auch wenn sich bald kaum mehr jemand erinnert, wie sie dorthin gekommen sind. Als Spätgeborenem aus dem äußersten Westen fehlt mir ohnehin das Mitspracherecht, selbst wenn ich, im Weltmaßstab gemessen, unweit von hier wohne. Ich könnte Dinge aus meinem Besitz aufzählen: Küchengerätschaften, Bücher, Teeschalen. Sie haben keinerlei Beweiskraft und ließen sich leicht abtransportieren. Wenn ich „Rhein, Nil, Bosporus, Spree“ sage, stellt sich die Frage, ob die Reihenfolge etwas bedeutet. Kehre ich den Betrachterstandpunkt jedoch um und schaue als das Äußere durchs Fenster hinein, sitze ich in einem Zug der Berliner S-Bahnlinie 9 und fahre vom Flughafen Schönefeld stadteinwärts. Von anderen Weltgegenden kann jetzt keine Rede mehr sein. 


Verschwimmende Städte.

Kreuzfahrer und Müllwerker: Aus dieser Perspektive ist davon auszugehen, dass sie einander nicht sehen. Schon der reinen Feststellung könnte eine politische Botschaft innewohnen. Um zu erfahren, ob dem so ist, müsste man beim Autor vorstellig werden, der sich jedoch seit Wochen verleugnen lässt. Die Frage nach dem individuellen Glück bleibt sowieso ungestellt, da sie sich implizit nicht allgemein beantworten lässt. Man kann statistisch erheben, wie hoch der Anteil an Barträgern oder Rheumapatienten in beiden Gruppen ist. Da sich vermutlich aber weder der Verband türkischer Herrenfriseure noch die großen Pharmaunternehmen etwas von den Zahlen versprechen, wird sich niemand finden, der die Studie finanziert. An der Oberfläche bleibt das Verhältnis von Licht und Schatten.


Reinkarnationen.

Ich weiß nicht, welche Käuferschicht oder Kundengruppe sich angeregt fühlen soll, die Kleider, die diese Puppe trägt, selbst wenn sie maßgeschneidert wären, für ihre Kinder zu kaufen. Möglicherweise handelt es sich aber auch um eine Ding-Reinkarnation: Eines der berühmten, auf den chinesischen Seladonkeramiken der Sung-Zeit abgebildeten spielenden Kinder hat sich, während es eigentlich ein steter Quell der Freude sein sollte, seinerzeit derart schlecht benommen, dass es seinem Besitzer samt Schüssel aus der Hand gefallen und in tausend Scherben zersprungen ist, und jetzt wurde es überlebensgroß in Plastik wiedergeboren, um es besser zu machen. Momentan sieht es allerdings nicht so aus, als ob das gelingt.

Wieder Schiffe.

Je weniger Tage mir hier bleiben, desto mehr Stunden verbringe ich auf den Schiffen, fahre jetzt sinnlose Umwege über Asien, nur um länger auf dem Wasser zu sein, breche Museumsbesuche und Stadtstreifzüge ab, weil ich das letzte Boot Richtung Tarabya nicht verpassen will, obwohl die Metro noch sechs Stunden bis Mitternacht für die selbe Strecke die Hälfte der Zeit benötigen würde. Bald werde ich mir die Orte, die ich besuche, nur noch nach der Möglichkeit, sie mit dem Schiff anzusteuern, auswählen. Mittlerweile frage ich mich sogar morgens bei der Arbeit, wenn ich all die Tanker, Frachter, Kreuzfahrer an meinem Fenster vorbeiziehen sehe, weshalb ich, als es die Zeit für solche Entscheidungen war, nie darüber nachgedacht habe, Hochseekapitän oder wenigstens Flussschiffer zu werden. Zumindest Letzteres hätte nahe gelegen. Ich weiß aber auch, dass die Angewohnheit, sich als ein anderer in einer anderen Biographie zu sehen, eine Art Berufskrankheit ist. Während ich das schreibe, ruft draußen seit einer halben Stunde und die zweite Nacht infolge sehr laut eine Eule. Wäre ich am Niederrhein, würde ich mir jetzt Sorgen machen, denn dort kündigt sie den Tod an.

Andere Leben.

Länger als eine halbe Stunde habe ich dem Jungen zugehört, der nie gesehen souverän die genaueste und virtuoseste Tabl schlägt, die ich je gehört habe, sich dabei zwischendurch, während er mit der linken Hand Akzente setzt, mit der rechten Sonnenblumenkerne aus der Hosentasche fischt, sie nur mit der Zunge so zwischen den Schneidezähnen positioniert, dass sie sich aufknacken lassen, die Schalen aus dem Mundwinkel spuckt, dabei längst wieder neue Rhythmen aus der Trommel zieht, jederzeit weiß, dass er in einer anderen Liga spielt als sein großer Bruder oder Cousin, lacht, bei sich ist, in seinem Leben, und ich frage mich, ob er es wirklich besser hätte mit pädagogisch wertvollem Spielzeug, festen Fernsehzeiten und verordneter Nachhilfe, wenn er drei Dreien hintereinander in Mathe mit nach Hause bringt, weil er sonst bald keine Chance auf einen Medizinstudienplatz mehr hat. Anderthalb Stunden später spielt er immer noch, andere Brüder oder Cousins tanzen eine Mischung aus Breakdance und Bauchtanz auf seine Rhythmen, und obwohl er nun aber wirklich längst ins Bett gehört, weiß ich die Antwort immer noch nicht.

 

Vögel machen Geschichte.

Möglicherweise handelt es sich bei diesem Ara um einen direkten Nachkommen der Papageien, die arabisch-andalusische Entdecker im 13. Jahrhundert aus Südamerika mitgebracht haben. Über Marrakesch und Tunis gelangten vermutlich einige Paare zu den ägyptischen Mamluken und von dort zu den Osmanen, die präzise Zuchtbücher führten, um der genetischen Degeneration entgegenzuwirken. Neben Dokumenten aus dem Familienarchiv der Luisa Isabel Álvarez de Toledo y Maura, 21. Duquesa de Medina Sidonia, mithin Trägerin des ältesten spanischen Herzogtitels, und der von Kolumbus erwähnten Moschee in den kubanischen Bergen stellen sie einen weiteren historischen Beleg für die Entdeckung Amerikas durch muslimische Seefahrer 200 Jahre vor besagtem Kolumbus selbst dar und werden vielleicht sogar bald in den auf Anregung des hiesigen Präsidenten überarbeiteten türkischen Geschichtsbüchern zu sehen sein.

Schöner Bosporus.

Es ist Sonntagabend, die Fähre setzt mich von Kadiköy in Asien, wo ich anderthalb Stunden lang vergeblich nach dem Geschäft gesucht habe, das japanischen Sencha führt, nach Kabataş in Europa über. Dankenswerterweise nimmt der Himmel in diesem Moment eine emotional wirksame Farbigkeit an. Die Kormorane scheinen zufrieden mit dem Verlauf des Wochenendes und haben sich zur Ruhe begeben, wohingegen die Möwen bis weit in die Nacht schreiend ihre Kreise ziehen. Eine Zusammenfassung ist nicht möglich.

Das Geisterschiff.

Seit vier Tagen liegt der Schüttgutfrachter El Condor Pas, registriert in Panama, nahezu bewegungslos mitten in der Bosporus-Fahrrinne vor meinem Fenster, je nach Strömung stabilisiert von zwei, manchmal drei Schleppern, damit er den Verkehr nicht noch stärker gefährdet. Ich erinnere mich, wie das Schiff aus Istanbul kam, aber wenn sich nicht ein Schnellboot der Küstenwache mit Höchstgeschwindigkeit genähert und es geradezu dramatisch umkreist hätte, wäre es mir nicht aufgefallen. Seitdem bewegt es sich nicht mehr. Erst dachte ich, es hat vielleicht einen Motorschaden oder ist aus einem anderen Grund manövrierunfähig, aber dann hätten die Schlepper es längst aus dem Weg schaffen können – sie bewegen ganze Bohrinseln und zwanzigstöckige Kreuzfahrer.

Gestern fiel mir das Lied „Wir lagen vor Madagaskar/und hatten die Pest an Bord...“ wieder ein. Ich weiß nicht, wie weit der Wind Bakterien oder Viren transportieren kann, ohne dass sie zerstört werden, fest steht, dass ein starker Luftstrom aus dem Schwarzen Meer unablässig quer durch meine Wohnung zieht, gerade auch nachts. Zum Glück habe ich etwa im Alter von achtundzwanzig Jahren endgültig mit der Hypochondrie gebrochen, so dass ich das leichte Unwohlsein, das ich gestern und heute Morgen beim Aufwachen verspürt habe, nicht als Beginn meines Sterbens gedeutet habe. Was aber nichts heißen muss.

Überraschende Ähnlichkeiten.

 

Genau so wie die Schubkarre, die derzeit bei den Renovierungsarbeiten auf dem Friedhof rund um das Grabmal des großen Sufiheiligen Yahya Efendi oberhalb von Beşiktaş im Einsatz ist, sahen die Schubkarren meines Vaters und der meisten Schubkarrenbesitzer in dem während meiner Kindheit zu 98% katholischen Dorf Hönnepel auch aus, einschließlich der Zementauswaschung. Übrigens auch die unseres auf dem Sterbebett zum Atheismus konvertierten Nachbarn Gerd Derks. Sollte ich mich darüber wundern?

 

 

Nachts.

„Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“, hat es seinerzeit geheißen. Lange war ich sicher zu wissen, was damit zum Ausdruck gebracht werden sollte. Ich vermute aber, dass der Weg von dort nicht weit zu Stadtautobahnen, Schnellbusstrecken ist. Zumindest Letztere können es, was die Mysterien anlangt, mit den Hauptbahnhöfen locker aufnehmen. Erwartung und Erschöpfung, Schönheit, Verbitterung. All diese Augen, die aus wildfremden Leben auf den Boden schauen, meinen Blick kreuzen. Selten. Wichtig ist zu wissen, wo man um- oder aussteigen muss, will man nach Hause finden. Sowieso nehmen sich die Verhältnisse nach Mitternacht anders aus, auch wegen der Geister, die eigene Pläne verfolgen. "Frag mich was Leichteres."


Nostalghia.

Es gibt frisch gepressten Orangensaft aus Plastikbechern und Tee aus Tulpengläsern auf den Schiffen. Meist geht jemand mit einem Tablett herum. Erst jetzt frage ich mich, weshalb ich mich nie gewundert habe, dass nicht ständig etwas herunterfällt. Sowieso existiert das alles eigentlich nur noch in Filmen von früher. „Früher“ endete um 1977, warum weiß ich nicht. Damals trugen Belmondo und Mastroianni diese Art Slipper mit den etwas höheren Absätzen, die man hier immer noch sieht. Neulich habe ich mir auch ein Paar gekauft. Ich muss die Beweggründe noch analysieren, möglicherweise war die unsinnige Hoffnung darunter, das endgültige Ende besagten „Frühers“ auf die Weise ein letztes Bisschen hinauszuzögern. Solche Fotos sind aber auf jeden Fall falsch.

Stadtkunst Stattkunst.

Im Idealfall sensibilisiert Kunst die Augen des Betrachters. Gerade auch Objekte und Installationen können in dieser Hinsicht überraschende Wahrnehmungsveränderungen hervorrufen. Man tritt aus dem Museum auf die Straße oder schaut aus dem Galeriefenster und plötzlich fallen einem Dinge auf, die man vor dem Besuch der Ausstellung keines Blickes gewürdigt oder ganz einfach übersehen hätte. Das ist schön für den Betrachter. Die Sensibilisierung kann allerdings auch zur Folge haben, dass man manche der gefundenen Gebilde oder Formationen am Ende kraftvoller und ausdruckstärker findet als die Kunstwerke, die einen für ihre Wahrnehmung sensibilisiert haben. Das ist dann unschön für die Künstler. Zum Glück merken sie nichts davon.


Menschen in Moscheen 9

In der kleinen Moschee beim Grabmal des Sufiheiligen Pir Seyyid Hasan Hüsameddin Uşşak sitzt ein uralter, winziger Derwish auf dem Boden, schaut in einen Taschenspiegel und bringt seinen schönen Bart in Form. Anschließend schiebt er längere Zeit fünf oder sechs Münzen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten auf dem Teppich hin und her. Danach betet er einige Rakat, setzt sich wieder, wirft abermals die Münzen, kommt schließlich zu mir herüber und beginnt zu reden. Dass ich kein Wort verstehe, stört ihn nicht, weshalb sollte es auch. Ich habe den Eindruck, dass er mir verschiedene Dinge erläutert, die wichtig für mich sind. Er deutet mehrfach auf den Türkisring an meiner rechten Hand. Ich fürchte, dass etwas damit nicht stimmt, dann reibt der Derwish seine beiden Zeigefinger gegeneinander, weist auf sein Herz und mein Herz, abermals auf den Ring, bis ich ihn vom Finger ziehe und ihm gebe. Er geht in den hinteren Teil der Moschee, nach einer Weile kommt er wieder, gibt mir den Ring zurück, zeigt jetzt auf den Ring an meiner anderen Hand, meinen Lieblingsring, mit einem sehr leuchtenden Karneol, den ich ihm genauso widerspruchslos gebe wie den ersten, denn jede Form des Widerspruchs wäre dumm und außerdem zwecklos. Meinen Karneolring steckt er sich sogleich an, betrachtet ihn zufrieden, deutet erneut auf sein Herz und mein Herz, macht Gesten, die für „Gebet“ stehen, weist dann auf ein sehr kleines Sofa voller Decken und Tüten rechts an der Wand, legt seinen Kopf schräg und seine Wange auf die flach gefalteten Hände, bis ich begreife, dass er dort schläft – dass diese Moschee bei den Heiligengräbern sein Zuhause ist. Jetzt zeigt er auf mich, führt seine Rechte zum geöffneten Mund, sagt „Ekmek“ – eines der sieben türkischen Worte, die ich kenne, es heißt „Brot“ –, steht auf, holt eine Tüte von seinem Sofa mit einem Weißbrot darin, bricht ein großes Stück ab, gibt es mir und fordert mich auf, ihm zu folgen. Weiter hinten darf ich mich an einen kleinen Tisch setzen und essen, dazu bietet er mir einen Becher Wasser an aus den großen Flaschen, die dort unter einer Anrichte stehen. Als ich mich schließlich verabschiede, sind anderthalb Stunden vergangen. Er wiederholt die Gesten, die Herzensverbundenheit und Gebet bedeuten. Mein Ring sieht an seiner Hand so viel besser aus als an meiner. Ich kann mich nicht erinnern, was er seinerzeit gekostet hat, bin aber sicher, dass ich gerade eines der besten Geschäfte meines Lebens gemacht habe.


Matts Dees Biennalebeitrag.

Auch Matts Dee ist mit einer großen Installation im Rahmenprogramm der Istanbul Biennale vertreten. Einmal mehr knüpft seine Arbeit an die ästhetischen Paradigmen der Sechziger- und Siebzigerjahre an. Elemente von Arte Povera und Minimal Art werden scheinbar spielerisch zitiert und sind doch auch ein entschiedenes Statement gegen die mit technischem Aufwand und polierter Perfektion auftrumpfenden Artefakte, von denen die soeben zu Ende gegangene Artinternational Istanbul bestimmt war. Daneben stellt Dees Installation subtil und mit leiser Ironie ihre kritischen Fragen an den rücksichtslosen Modernisierungsprozess, der die Bosporus-Metropole seit einigen Jahren erfasst hat: Rot-Gelb und Blau, der Dreiklang, der gleichsam emblematisch für die Kunst im Dienste des Fortschrittsglaubens der frühen Moderne steht, wird grotesk dekonstruiert: statt Wolkenkratzern bleiben Bretterbuden, denen freilich das Potenzial zur Himmelstreppe innewohnt.


Menschen in Moscheen 8.

Im Halbdunkel zwischen den mächtigen Pfeilern der unterirdischen Moschee saß ein greiser Derwisch auf dem Boden und rezitierte aus dem Koran. Mehrfach schlug ihm die Stimme um, er schluchzte, erschüttert über die Wahrheit und Schönheit der Heiligen Worte, unterbrach seinen Vortrag jedoch nicht. Drei syrische Kinder, deren Mutter neben dem Eingang Bulgur aus einer Plastikschale aß, lieferten sich Verfolgungsjagden, schrien, lachten, nahmen einen großen Schwung Gebetsketten mit, kehrten mit leeren Händen zurück. Zwei Geschäftsmänner in gestärkten Hemden, grauen Anzügen gingen zielsicher zur Türbe des Amr ibn al Ass und beteten für ein Anliegen. Nach ihnen kamen einen ältere und eine jüngere Frau, die vielleicht Mutter und Tochter waren, schauten sich um, suchten offenbar etwas Bestimmtes, fanden es jedoch nicht und verschwanden im grellen Licht des Nachmittags. Niemand störte sich an etwas.


Kraniche.

Die Bilder von Masao Yamamoto in der Koje der Valid Foto Bcn Gallery auf der ARTINTERNATIONAL 2015, Istanbul, sind so, dass ich mich tiefer verneigen möchte, als es mein Rücken zulässt.


Ein Pferd.

Ich weiß nicht, ob Helmut von Moltke, der Schweiger, als er 1836 auf Wunsch Sultan Mahmuts II. Militärberater des Osmanischen Reichs wurde, Brandenburger Landpferde mit nach Konstantinopel genommen hat oder ob man ihn im Vorfeld überzeugen konnte, vor Ort auf einen eigens für ihr ausgewählten Geschenkhengst des Sultans umzusatteln. Fest steht, dass trotz Moltkes tatkräftiger Unterstützung der Feldzug der Osmanen gegen die ägyptischen Truppen unter Ibrahim Pascha, dem Sohn Muhammed Alis, 1839 in der Niederlage von Nizip endete. Moltke erhielt dennoch ein schönes Denkmal in Form eines Obelisken auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Tarabya, und die militärische Allianz zwischen beiden Reichen bestand bis zum Ende des 1. Weltkriegs fort. Ich persönlich bin froh kein Generalfeldmarschall geworden zu sein, auch wenn ich zugebe, dass ich für einen Araberhengst aus dem Gestüt des Sultans viel gegeben und gleich morgen Reitstunden genommen hätte, um zumindest einmal auf dem Rücken eines Pferdes von den Hügeln oberhalb des Bosporus hinunter an die Schwarzmeerküste zu galoppieren.


Lichtveränderungen.

Hier in der Gegend wird der Tee in großen dickwandigen Gläsern serviert, beziehungsweise: Es wird nicht Tee serviert, sondern heißes Wasser, in das ich ein ungebleichtes Papiersäckchen mit einer kleinen Menge getrockneter Blätter, Darjeeling oder Earl Grey, hineinhängen kann, bis das Wasser eine Farbe angenommen hat, die an Tee erinnert. Weitere Ähnlichkeiten des Getränks mit dem, was in Istanbul gebracht wird, wenn man „Çay“ - „Tee“ bestellt, sind nicht erkennbar. Unterdessen zieht der Himmel über Berlin sich dunkelgrün zu, das staubige Laub der Hybridpappeln in den Straßen raschelt unter den Vorboten stärkerer Winde, die sich über den Ebenen vor der Stadt sammeln. Dann der Regen.


Realfeudalismus.

Blickachsen wie in pückler’schen Landschaftsgärten auf den Trümmerbergen des Ostens, angelegt unter sozialistischer Herrschaft, um Arbeitern und Bäuerinnen die Gelegenheit zu geben, wenigstens beim sonntäglichen Lustwandel dem Beispiel der enteigneten Grafen und Baronessen zu folgen. Dem nachrückenden Kapitalismus ging bald das Geld aus, um sachkundige Gärtner zu bezahlen, sowieso sollten postmoderne Angestellte sich nicht einbilden, sie könnten den Adel beerben. Jetzt verwildert hier alles. Ganz anders im Park der Villa Tarabya, wo es den Geistern des Ortes gelungen ist, die Zeit anzuhalten. 1839 allerdings, beim Istanbul-Besuch des Fürsten Pückler-Muskau, war das Gelände noch im Besitz des Sultans. Doch ebenso wie die Recherche historischer Umstände und entsprechende Ausstattung der Szenen fester Bestandteil der Literatur ist, gehört auch deren Fälschung dazu, weshalb ich keine Scheu habe, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass der Fürst selbst es gewesen ist, der Sultan Abdülmecid I. während einer Privataudienz Pläne für einen Landschaftsgarten überreichte, wie die Welt ihn noch nie gesehen hätte. Allerdings sei für dessen Verwirklichung die tatkräftige Unterstützung gleichsam leibhaftiger Dschinnen vonnöten. Es dauerte wiederum 35 Jahre, bis diese zur Mitarbeit bewegt werden konnten, doch was die dann schufen, übertraf in seinem Zauber sogar die Erwartungen des verstorbenen Fürsten. Dies hat mir ein Botschaftsmitarbeiter versichert, der jüngst Einsicht in die Protokolle einer Séance aus dem Jahr 1891 nehmen konnte, und ich glaube ihm gern.


Sommer von der Stadt.

Draußen vor der Stadt Berlin werden im Schatten der Deponien Pferde gehalten. Neben den Koppeln beginnt ein prämiertes Hundeauslaufgebiet. Sie Sonne steht gewohnt rund am Himmel und sendet eine große Menge Licht. Pflaumen und Mirabellen fallen überreif von den Bäumen. Jeden Sommer denke ich, nächstes Jahr werde ich mit Leiter und Eimern kommen, dann Kuchen backen, Marmeladen kochen. Der Vergleich mit der Luft, die vom Schwarzen Meer über den Bosporus weht und in Tarabya an Land geht, ist sinnlos und beweist, dass ich weiter als drei Flugstunden von dem entfernt bin, was der entscheidende Unterschied wäre . 

Trautes Heim.

Jetzt also Berlin – zu Hause – aber doch nur für wenige Tage, gleichsam auf der Durchreise. Es ist kühl, die Sonne geht später unter, der Imbiss um die Ecke wird von Arabern betrieben. Kein Muezzin und keine Möwenschreie in der Nacht, trotzdem habe ich nicht ruhiger geschlafen.

Obwohl einerseits immateriell, also unabhängig von Raum und Zeit, andererseits, solange ich bei lebendigem Leib bin, nicht isolierbarer Bestandteil meiner Person, reise die Seele oder der Ätherleib angeblich langsamer als das, aus dem ich sonst noch bestehe. Ich bin also wohl nur teilweise in Tegel gelandet gestern am späten Nachmittag. Wo der fehlende Rest sich momentan aufhält, weiß ich nicht, unabhängig davon und ganz gleich, womit ich es wahrnehme, sind die Putzlappen, die zum Trocknen auf dem Balkon hängen, heute Abend von geradezu übernatürlicher Leuchtkraft.


Das Produkt der Saison 2.

„Guck mal: Die Satellitenschüssel hat ihren eigenen Selfiestick“, sagt die Tochter.

„Wartet mal, ich fotografiere das Ding grad eben“, sage ich.

„Wozu?“, fragt die Tochter.

„Wozu wohl: Er will einen Post daraus machen“, sagt die Frau.

„Genau“, sage ich.

„Aber lass dir die Nutzungsrechte von ihm bezahlen“, sagt die Frau.

„Naja, mal sehen“, sage ich.

So offen und direkt gehen wir in der Familie miteinander um.

 

Das Produkt der Saison.

Der mit Abstand größte Produkterfolg dieses Sommers ist der Selfiestick. Das erste Exemplar habe ich im Februar bei einem golfarabischen Touristen im Innenhof der Al-Azhar-Moschee in Kairo gesehen, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich verstanden hatte, was für eine Art Übung er mit dieser sonderbaren Teleskopstange vollführte. Damals habe ich meinerseits eine ganze Serie des sich selbst aus der Halbdistanz abbildenden Mannes für meine Sammlung menschlicher Sonderbarkeiten fotografiert. Bis zum 1. Juni, als ich nach Istanbul geflogen bin, hatte der Selfiestick sich in Berlin noch nicht durchgesetzt, während er hier bei meiner Ankunft bereits das mit Abstand am häufigsten angebotene und benutzte Ding war. Ich nehme an, dass ich mich mit jeder Bewertung des Phänomens in die jahrzehntausendealte Gruppe fortschrittsfeindlich nörgelnder Väter, wenn nicht Großväter einreihen würde, äußere mich also nicht dazu.


Menschen in Moscheen 7.

Tatsächlich braucht man in Moscheen gar nichts zu tun. Es gibt kaum Orte, die sich dazu besser eignen. Woran das liegt, weiß ich auch 23 Jahre, nachdem ich zum ersten Mal in einer Moschee gewesen bin, nicht. Damals habe ich mich hingesetzt und den Gedanken beim Turnen zugeschaut. Irgendwann hatten sie sich ausgetobt und gaben Ruhe. Das ist deutlich angenehmer, als wenn sie zu einem Ergebnis kommen, das ich dann gleich wieder verteidigen oder selbst in Zweifel ziehen muss. Lediglich die Entscheidung aufzustehen, kann zum Problem werden, aber auch darüber denke ich nicht nach.



Weltuntergänge.

Bereits in der Antike kam es in den hiesigen Gegenden gelegentlich vor, dass ganze Landstriche vom Erdboden verschluckt wurden oder im Meer versanken. Solche Vorgänge lösten naturgemäß Schrecken aus, insbesondere bei denen, die später davon hörten. Hingegen hatten die, denen es wiederfuhr, oft gar keine Zeit mehr für Angst und falls doch, fanden sie sich vielleicht schon wenige Augenblicke später auf der anderen Seite von was auch immer wieder, staunend, dass sie noch vorhanden waren. So gesehen haben wir uns keine großen Gedanken gemacht, als am Morgen die gegenüberliegenden Berge in den Wolken verschwanden, obwohl oder gerade weil uns wiederum niemand gewarnt hatte.


Das Wetter.

Für keine Stadt, in der ich je war, haben die Wettervorhersagen so wenig gestimmt, wie für Istanbul. Wahrscheinlich waren die Meteorologen Suleimans, des Prächtigen, schon präziser als die Wettersatellitendatenauswertungsprogramme dieser Tage, sonst hätten sie damals gar nicht erst die Chance bekommen, so lange Berufserfahrung zu sammeln, wie es nötig gewesen wäre, um Chefmeteorologe des Sultans zu werden. Was sie als Grundlage ihrer Vorhersagen benutzt haben, Sternenkonstellationen, Wolkenbilder, Vogelflug, Wissenschaft oder Intuition – ich weiß es nicht, es spielt auch keine Rolle. Am Abend zogen Wolken auf, jetzt regnet es stark. Hochzeiten fallen ins Wasser, so dass die Caterer Wildfremde mit Speisen vom Buffet beschenken. Wir können es bezeugen, während das Wasser in unser Vordach eindringt, durch die hölzerne Decke tropft, schon zentimeterhoch im Wintergarten steht ...

 

Menschen in Moscheen 6.

Wesentliche Aufmerksamkeit widmen Menschen in Moscheen ihren Smartphones, wobei man angesichts des allgemeinen Frömmigkeitsniveaus selbstverständlich davon ausgehen muss, dass die User in speziellen Koran-Apps lesen, sich die 99 Namen Gottes einzuprägen versuchen oder über Sonderangebote für die Hadsch informieren. Profanstenfalls sind sie mit Arabisch-Lern-Programmen beschäftigt, um Vokabel für Vokabel ihr Verständnis der Heiligen Texte zu verbessern. Es kann natürlich auch sein, dass es sich genau umgekehrt verhält, und die Leute sämtliche Tätigkeiten ihres Lebens - einschließlich der Computerspiele, des Online-Shoppings und der Chats mit Freunden - in den religiösen Raum integrieren wollen. Oder es ist in den Moscheen einfach alles so wie überall. Aber will man das ernsthaft glauben?


Baustoffe.

Es gibt Frauen im Harem des Sultans, auch Männer, die nicht kastriert sind. Der Sultan hingegen ist seit längerer Zeit abwesend. Es heißt, Präsident Erdogan beschäftige mittlerweile einen Vorkoster, da er sich vor Giftmord fürchte. Das weist zwar in diese Richtung, reicht aber nicht für die Sultanswürde, egal wie groß sein Palast ist. Nach all den Fliesen, Steinmetz- und Holzarbeiten heute im Topkapi Sarayi bin ich ohnehin sicher, dass Stahlbeton niemals einen brauchbaren Baustoff für Sultanspaläste abgeben kann, ganz gleich womit man ihn nachher verblendet und wie viele Kubikmeter Marmor den Boden bedecken. Das gilt im übrigen auch für Stadtschlösser, mit und ohne Kaiser.


Alles umsonst.

Auf der weitläufigen Terrasse des Grand Tarabya Hotels, die sich etwa fünfzehn Meter über dem Meeresspiegel befindet, hängt ein vereinzelter Rettungsring für den höchstwahrscheinlichen Notfall: Neulich hörte ich nämlich, dass bei dem gewaltigen Erbeben, das der Stadt Istanbul seit Längerem in Kürze bevorsteht, unter anderem die Prinzeninseln vollständig im Meer versinken werden. Die Flut, die auf den Untergang der Inseln folgt, wird sicher auch das Wasser im Bosporus sprunghaft ansteigen lassen und dann wäre ein solcher Ring von großem Nutzen für die Sonnenbadenden, die einen Haufen Geld bezahlt haben, um an diesem privilegierten und erhöhten Platz liegen zu dürfen. Ich fürchte allerdings, dass der Streit um den einzigen Ring im letzten Moment derart heftig sein wird, dass die ganze Erholung auf einen Schlag futsch ist.


Die Katzen vom Vansee

Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei dieser wilden Katze, die in der Nähe der Chora-Kirche ihr Leben verbringt, um eine der sehr seltenen und dementsprechend kostbaren Van-Katzen. Sie ist halblanghaarig ohne Unterfell und hat verschiedenfarbige Augen, wobei das Auge, das bernsteinfarben sein sollte, in ihrem Falle grün ist. Ob sie gerne schwimmt, habe ich nicht überprüfen können. Merkmalsbeschreibungen für Haustierrassen, insbesondere wenn sie von Zuchtvereinen gehütet werden, haben parareligiösen Charakter, sind also ebenso sakrosant wie umstritten. Abgesehen von den Rassemerkmalen streiten sich Armenier, Kurden und Türken darum, wer von ihnen die wahren Hüter der Van-Katzen sind. Obwohl also drei Völker die Verantwortung für sie übernommen hatten, lebten 1992 in der Türkei nur noch 92 weiße Exemplare. Inzwischen gibt es ein staatliches Rettungsprogramm und der Export einer Van-Katze ist mit Geldstrafen von bis zu 35.000 Euro belegt. Wir fanden es angesichts dieser Umstände angemessen, unser gegrilltes Hühnchen mit diesem nicht-registrierten und vermutlich auch nicht rassereinen Exemplar zu teilen. Wir haben die Stückchen - das versteht sich von selbst - nur aus dem Inneren der Fleischwürfel geschnitten, wo es weder mit Gewürzen noch mit Feuer in Berührung gekommen war.


Gefühlsmischungen.

Es ist nicht Capri sondern Büyükada, und die rote Sonne versinkt auch nicht im Meer sondern hinter dem Berg. Fischer gibt es in größerer Zahl.

Am Morgen bin ich zwischen zwei Hügeln inmitten der Stadt Istanbul unter Hunderten, wenn nicht Tausenden von Weißstörchen hindurch gefahren, aber obwohl der Taxifahrer eigens am Straßenrand gehalten hat, damit ich Fotos machen konnte, sind sämtliche Bilder unscharf. Deshalb simuliere ich jetzt ein großes Gefühl in Form von Sonne, Segelboot und Stabreim. Eigentlich hatte ich mich fragen wollen, ob wohl auch die Störche aus Hönnepel, deretwegen ich längst dorthin hätte zurückkehren sollen, bei denen waren, die sich über mir sammelten, um gemeinsam den Bosporus zu überqueren. Das wären Berührungspunkte von ganz anderem Gewicht gewesen als ein deutscher Schlager aus den 40er Jahren. Doch wie ich inzwischen herausgefunden habe, ziehen die niederrheinischen Störche über Gibraltar, während ihre Berliner Artgenossen die Route über Istanbul nehmen. In welchem emotionalen Verhältnis ich zu letzteren stehe, weiß ich nicht. Meine Tochter ist Berlinerin. Vielleicht muss ich mir das öfter sagen.


Die Nettigkeit.

„Ist das jetzt ein gutes Foto oder ist es zu schön?“, frage ich die Frau.

Die Frau sagt: „Wieso? Schön ist doch nicht schlecht. Muß ja nicht immer komplett kaputt sein, ist kaputt genug.“

Ich weiß nicht, ob sie Recht hat.


Kontexte.

Etwas Himmel und ein Stück sonnenbeschienenes Dach spiegeln sich in der zerbrochenen Scheibe eines zum Abbruch freigegebenen Hauses an der Uferstraße von Yeniköy. Vor der Villa, zu der das Dach gehört, parken ein neuer S-Klasse Mercedes und ein Porsche Cayenne, auf die Privatwachleute des Besitzers in einem Telefonzellen-großen Kabuff rund um die Uhr aufpassen. Wenige Meter entfernt könnte man sich auch einen Rolls-Royce oder einen Ferrari direkt aus dem Schaufenster kaufen. So gesehen ist es nicht sicher, ob es sich bei dem gespiegelten Dach und den frischgrünen Bäumen, die defacto hinter einer vier Meter hohen, stacheldrahtgekrönten Mauer stehen, tatsächlich um Symbole der Hoffnung handelt.


Menschen in Moscheen 5.

Die heiterste, um nicht zu sagen lustigste Moschee, die ich kenne, ist die in Ortakoy am Ufer des Bosporus. Natürlich ist es sehr fragwürdig, eine Moschee lustig zu finden, da doch alles, was mit der Religion zu tun hat, von heiligem Ernst sein soll. Die frühchristlichen Mönche und Eremiten waren überzeugt, dass Jesus nie gelacht hat, und betrachteten das Lachen als schwere Sünde, die der Demut im Weg stehe. Einmal habe ich einen Sufi-Meister, der selber oft lacht, gefragt, ob der Humor, bei dem es sich doch ohne Zweifel um eine gute Eigenschaft handele, dann nicht auch zu den Eigenschaften Gottes gehören müsse und in welchem Seiner neunundneunzig Namen er wohl enthalten sei. Der Meister nickte, war sich aber nicht ganz sicher und wollte mir die Antwort später geben. InshaAllah.


Hagia Sophia 2.

Allerdings wäre ich wider besseres Wissen ärgerlich gewesen, wenn die türkische Altertumsbehörde gerade jetzt dieses Christus-Mosaik, das ich 1992 zum ersten Mal und danach zwei weitere Male gesehen habe, eingerüstet hätte. Wahrscheinlich wäre ich sogar für einen Moment persönlich gekränkt gewesen, insbesondere weil die Frau und das Mädchen es dann auch nicht hätten sehen können. Für sie war es das erste Mal. Wäre das Bild zur Zeit hinter einem Gerüst, hätten sie keine Chance gehabt herauszufinden, welchen Eindruck es in, sagen wir, dreiundzwanzig Jahren verglichen mit heute auf sie gemacht haben würde, was ein Jammer gewesen wäre, da es sich doch schon binnen zwanzig Minuten mindestens fünfzehn Mal völlig verändert.


Hagia Sophia 1.

Ich persönlich mag Gerüste, obwohl sie den Blick auf das verstellen, was ich eigentlich sehen will beziehungsweise sehen wollte, in diesem Fall etwa ein Viertel der Hagia Sophia, doch gerade dieses Gerüst kommentiert durch seine einerseits unerbittliche andererseits geradezu verspielte Geometrie, das, was da ist und auf verschiedenste Weise anders gemeint war – so oder so und bei diesen wie jenen, ihren Vorgängern, Nachfolgern keineswegs immer gleich –, auf eine Weise, die ich ungern verpasst hätte, selbst wenn dieser Kommentar von niemandem beabsichtigt war, außer vielleicht dem Geist selbst, der ja bekanntlich weht, wo er will.


Stadtgesichter.

Gesichter und Hände eines alten Paares innig beieinander auf der Wand einer zerfallenden Werft am Goldenen Horn. Man kann sagen, dass es mit der Umgebung nicht zum Besten bestellt ist. Doch weder schreien sie noch stehen sie kurz davor. Womöglich haben sie Angst, Zorn und Schmerz hinter sich gelassen. Das wäre im Großen und Ganzen schon alles, was einem, in diesem Fall zweien zu wünschen wäre gegen Ende des Lebens.

 

Eyüp Sultan.

Bei der Eyüp Sultan Camii liegt der Bannerträger des Propheten Mohammed, Abu Ayyub al-Ansari, begraben, der während der ersten Belagerung Konstantinopels durch die Araber um das Jahr 674 vor den Toren der Stadt über 90-jährig fiel. Seine Türbe ist der wichtigste Wallfahrtsort Istanbuls und zieht Pilger aus der gesamten islamischen Welt an. Nur die Wahhabiten bleiben fern, da sie jede Form der Heiligenverehrung als Götzendienst ablehnen.  Im Hof der Moschee wurde den osmanischen Sultanen nach der Inthronisierung das Schwert des dritten Khalifen Uthman angelegt. Heute bin ich zum ersten Mal auch im Inneren des Schreins gewesen. Dass mir 450 Jahre alte Ornamentfelder aus Keramikfliesen einmal die Sprache verschlagen würden, hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen, als ich noch Künstler als junger Mann war.

 

Mahnmal.

Wenige Meter entfernt von neuesten Wolkenkratzern, kleinen Businessrestaurants und sensationell günstigen Outlets der großen Sportartikelhersteller, hat ein unbekannter Künstler zusammen mit einigen Autoausschlachtern eine Installation geschaffen, die an die arabischen Revolutionen erinnert.

 

Weltkatzentag.

Ich dachte, heute, am Weltkatzentag, wäre ein Bosporus-Delphin, der den Katzen in der ihm eigenen Sprache seine Glückwünsche übermittelt, eine gute Wahl. Leider verstehen weder die Katzen als Gemeinschaft noch ich als Mensch die wirkliche Bedeutung einer Delphingeste. Es kann also durchaus sein, dass der Delfin mit seinem halbgeschraubten Sprung vor meinem Fenster etwas völlig Anders zum Ausdruck bringen wollte als speziesübergreifende Glückwünsche. Wenn ich für den Anlass aber ein Katzenfoto gewählt hätte, wäre es ungefähr so gewesen, als hätte ich mir selber zum Geburtstag gratuliert. Das macht ja erst recht einen komischen Eindruck.


Menschen in Moscheen 4.

Hauptsächlich wird in Moscheen gebetet. Beim Beten handelt es sich um einen vielgestaltigen Tätigkeitsbereich, der in allen Religionen und den meisten Weltgegenden bis heute verbreitet ist. Neueren Statistiken zufolge wird in Teilen Mitteleuropas inzwischen seltener gebetet als überall sonst, da die Anrufung eines Gottes oder Höherer Mächte den Ideen jener geistesgeschichtlichen Epoche widersprechen soll, die im Deutschen „Aufklärung“, im Englischen „Enlightenment“ genannt wird, womit man dort allerdings auch die spirituelle Erleuchtung bezeichnet. Der Schulleiter des katholischen Internats, das ich neun Jahre lang besucht habe – ein westfälischer Mathematiker mit Neigung zur Analytischen Philosophie –, hielt „Statistik“ im Übrigen für den Superlativ von „Lüge“ und „Meineid“. Was ihn gedanklich beschäftigt hat, während er mit gefalteten Händen im Schulgottesdienst kniete, weiß ich nicht. Es täte auch nichts zu Sache, da er zumindest bis zum damaligen Zeitpunkt in keiner Moschee gewesen sein dürfte.


Street arte povera .

Während ich in einer steil abfallenden Seitenstraße der Istiklal-Caddesi stehe und mehrere Versuche mache, einen grell orangefarbenen Lampenschirm in einem verfallenden Zimmer zu fotografieren, kommt ein Amerikaner mit einer großen Spiegelreflexkamera um den Hals auf mich zu, der offenbar Konzentration und Glück in meinem Gesicht wahrgenommen hat, und fragt begeistert: „Oh, you got an opportunity for a great picture?“, „Yes“, sage ich, „the orange and the two different blues overthere.“ Er folgt meiner Blickrichtung, schaut dann wieder mich an, verliert einen Moment die Kontrolle über seine Mimik, und ich sehe, dass er mich eindeutig für geisteskrank hält.


Täuschungsversuche.

Am Wasser zu Sitzen, ohne dass es Wasser gibt, im Schatten der Brücke, wo keine Brücke ist.

Man könnte meinen, die Idee stamme aus Ostasien – stimmt aber nicht.

(Für den Besen allerdings würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.)

Noch mehr Licht.

Mehr oder weniger alle technisch erzeugten Erscheinungen insbesondere des Lichts, wie wir es gegenwärtig kennen, wären den Menschen früherer Epochen als erschütternde und verehrungswürdige Emanationen mächtiger Sylphen, Dschinn oder Kami, wenn nicht sogar des Großen Geistes selbst erschienen. Ich hingegen stand gestern im winzigen Laden des Photographen von Tarabya, um Passbilder für meinen Visumsantrag machen zu lassen, die ihrerseits das Werk eines großen Zauberers gewesen wären, und hatte sogleich eine einfache Erklärung für meine Vision der tanzenden Leuchtkörper vor dem verbrannten Dachstuhl gegenüber, was nichtsdestoweniger mit einer gewissen Entäuschung verbunden war.

... nach Stambul.

Der Schüttgutfrachter „Zena C“ fährt unter der Flagge Panamas, wo weltweit die meisten aller Schiffe registriert sind. Aus El Dekheila/Ägypten kommend, hat er gestern den Hafen von Istanbul verlassen, den Bosporus durchquert und ist nun auf dem Weg durch das Schwarze Meer nach Tuapse/Russland. Bei der Besatzung handelt es sich dem Augenschein nach hauptsächlich um Mestizen, die mit 60% die größte Bevölkerungsgruppe Panamas stellen. Vielleicht sind auch echte Indianer darunter, die man jetzt „Indigene“ nennt, wofür ich keine Erklärung habe, denn sie stammen ja noch immer nicht aus Indien. Abgesehen davon wirken sie gut gelaunt und haben offenbar auch mit dem Weißen unter ihnen keine Probleme. Ich überlege, welches Licht die Tatsache, dass ich beides mit einer gewissen Verwunderung feststelle, auf die unbewussten Faktoren meines politischen Bewusstsein wirft und bin bereit, problematische Felder anzuerkennen. Schon fällt mir wieder der Name „Karl May“ ein, und es ist ganz aus. 


Die Last des Besitzes.

Sehr reich zu sein, eine prächtige Villa mit Swimming Pool direkt am Bosporus zu besitzen, ist offenbar auch nicht das reine Vergnügen. Selbst wenn die Grünanlagen so pflegextensiv wie möglich angelegt wurden, machen sie doch immer noch eine Menge Arbeit. Der Pool ist leer – warum auch immer –, und es räkelt sich auch niemand in der Sonne, der einem selbst und den Vorbeifahrenden beweisen würde, dass der ganze Aufwand sich wirklich lohnt.

(Dass der Mann sein eigener Gärtner oder Verwalter ist, können wir nahezu ausschließen: Derart leger dürfte er kaum bei sich zum Dienst erscheinen, und wenn er es sich als Besitzer doch gestatten würde, müssten die Arbeitsbedingen insgesamt so sein, dass seine Stimmung besser wäre.)

 

Menschen in Moscheen 3.

Anders als gemeinhin angenommen, sind die meisten Moscheen ausgesprochen helle Räume. Man hat einen sehr weiten Blick, in manchen bis in den offenen Himmel, und wo der Himmel nicht offen ist, wird er gern durch eine Kuppel ersetzt, deren Ornamente zumindest symbolisch noch viel weiter reichen. Falls einem ein Pfeiler die Sicht verstellt und dunkle Sorgen sich hinter der eigenen Stirn zusammenbrauen, kann man getrost um ihn herumgehen und sich vergewissern, dass dahinter keine Gefahr lauert.


Abstufungen von Rot und Grün 2.

Der Blick über den Bosporus kurz vor Sonnenuntergang. Riesige Tankschiffe ziehen vorbei, kleine Fähren - manche sind seit mindestens fünfzig Jahren im Dienst; dazu die Rennyachten der Superreichen. Ein mäßig freundlicher Kellner bringt ungefragt neuen Tee. Man könnte frisch in Fett ausgebackene Süßigkeiten bestellen. Dann stürzt eine junge Möwe, seit kurzem erst flügge, in einer sowohl mathematisch als auch emotional derart präzisen Kurve aus dem Himmel am Tisch der alleinsitzenden Frau vorbei und verharrt einen Meter über dem Wasser, dass mir mein eigenes Staunen abgeschmackt vorkommt. Erst sehr spät fallen mir die Linien der Maserung in der hölzernen Trennwand auf. Ich frage mich, ob sie ein hinreichender Grund sind, alles andere nicht zu sehen.

Abstufungen von Rot und Grün.

Jemand, der es gut meint, hat den freien Hunden in seinem Viertel eine Hütte aufgestellt. Sie soll zumindest einem oder zweien von ihnen Schutz bieten in den rauen Wintermonaten, und falls ein Paar dem städtischen Kastrationsprogramm entkommen ist, kann es hier seinen Nachwuchs über die ersten Tage bringen. Im Moment ist die Hütte ungenutzt. Sie steht ab Mittag in der prallen Sonne und zum Einbau einer Klimaanlage konnte sich der Wohltäter dann doch nicht durchringen. Vielleicht ist aber die Idee, dass freie Hunde eine Hütte zum Glück benötigen, auch eine typische Illusion sesshafter Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass der Himmel besser als jedes Dach über dem Kopf ist, zumindest solange der Regen nicht friert.


Auf dem Wasser.

Mehr und mehr Zeit verbringe ich auf den Bosporus-Schiffen. Dabei ist mein Verhältnis zum Meer eher kühl, und in meinem bisherigen Leben haben mich Bootstouren kein bisschen interessiert. Man kann auch nicht sagen, dass die hiesigen Schiffe besonders schön oder atmosphärehaltig wären. Viele haben sehr laute Motoren und aus den Schornsteinen steigt schwarzer Dieselqualm wie aus den Auspuffrohren der Traktoren meiner Kindheit. Feinstaub- und Kohlenmonoxydbelastung dürften sich oberhalb der Grenzwerte für den Innenstadtbetrieb bewegen. Die meisten Passagiere sind auf dem Heimweg von der Arbeit und bezeugen normale Verhältnisse. Obwohl ich gelegentlich Delfine sehe und gerne eine der Holzvillen am Ufer bewohnen würde, bin ich weit davon entfernt in poetische Stimmungen zu geraten. Genaugenommen gerate ich in überhaupt keine Stimmungen, während ich mit den Schiffen fahre. Wahrscheinlich ist es das.


Josuas Grab.

Auch Hazreti Yüşa ist einer der vier Schutzheiligen des Bosporus. Bei ihm handelt es sich um den biblischen Propheten und Nachfolger des Mose, Josua. Sein Grab befindet sich auf einem der höchsten Hügel am Bosporus auf der asiatischen Seite. Es gibt noch ein weiteres Grab desselben Josua in Timnat-Serach und eines in Gilead. Die Lage ist insgesamt unübersichtlich. Würde man der historisch-kritischen Methode glauben, entsprängen auch die biblischen Berichte über Josua nachträglichen Mystifizierungen historischer Entwicklungen, die so nie stattgefunden haben. Allerdings ist die Idee, dass die Wahrheit einer Geschichte von ihrer zufälligen Übereinstimmung mit realen Ereignissen abhängt, durch die Literatur seit gut 3000 Jahren widerlegt. Fest steht hingegen dass Hazreti Yuşa Tepesi einer der wundersamsten Orte ist, an denen man sein kann.


Die Altertümer.

Überall sind Ruinen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alt sind. Manche sind allerdings älter, einige sehr alt und nur wenige zählen zu den ältesten. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass sie je älter desto wichtiger sind, auch wenn eine Quotientenkurve aus Alter und Wichtigkeit weder einen geraden noch einen konsequent exponentiellen Verlauf nähme, sondern viele, durch kunsthistorische Vorlieben oder unterschiedliche Epochenrelevanzzuschreibungen verursachte Dellen, Knicke und Sprünge aufwiese. Sowieso werden auch die, die jetzt lediglich alt sind, in einer gewissen Zeit sehr alt und – je nachdem wie die heute ältesten sich halten – eines Tages vielleicht sogar selbst die ältesten sein. Unglücklicherweise werden wir uns allerdings nicht mehr im Schatten ihrer künftigen Wichtigkeit sonnen können, ganz gleich wohin er geworfen wird.


Telli Baba Türbesi.

Oberhalb der Fischerstadt Sariyer liegt die Grabstätte von Telli Baba, einem Qadiriyya-Sufi-Sheikh des 15. Jahrhunderts, der als einer der vier Schutzheiligen des Bosporus verehrt wird. Sein Grabmal ist über und über mit Silberfäden bedeckt, von denen Pilger, die mit einem speziellen Anliegen gekommen sind, sich einen oder ein Stück abschneiden und mit nach Hause nehmen. Zum Abschneiden der Fäden liegen zwei Scheren in einer marmornen Schale bereit. Insbesondere in Liebesangelegenheiten soll Telli Baba erheblichen Einfluss haben. Sobald der Herzenswunsch in Erfüllung gegangen ist, muss der oder die Glückliche den Faden zurückbringen. Die türkische Religionsbehörde weist auf einem Warnschild eigens daraufhin, dass derartige Praktiken unislamisch sind, aber das ändert natürlich nichts, solange der Heilige seine Arbeit derart gut macht.

 

paradiesgrün.

Wir wissen nicht, ob das Tor zum Paradies tatsächlich grün ist. Es wäre logisch, denn dahinter liegt ja ein wunderbarer Garten, schattig und lau und voll köstlicher Früchte, die eines schönen Tages vielleicht allesamt erlaubt sein werden. Vermutlich wurde das Tor im Eisernen Zeitalter geschmiedet. Vorher wären die Materialen, die zur Verfügung gestanden hätten, viel zu weich gewesen. Seither ist es unablässigen Verwitterungsprozessen ausgesetzt, Hitze und Kälte, Stürmen, Regen, Schnee. Menschen haben ihre Namen eingeritzt, Fahrzeuge sind daran vorbei geschrammt. Längst weiß niemand mehr, was sich überhaupt dahinter befindet, aber weil das Tor nun einmal da ist, kommt gelegentlich jemand mit einem Eimer grüner Farbe, um es zu streichen. Der letzte Anstrich liegt nun allerdings auch schon eine Weile zurück.

 

Notfallnummer.

Diese Seite ist ja im Prinzip ganz und gar unpolitisch. Es wird nur gezeigt und beschrieben, was sowieso von jedem gesehen und verstanden werden kann. Heute frage ich mich allerdings in aller globalisierten Netzöffentlichkeit, was sich die Türken dabei gedacht haben, ein derartiges Objekt in einer Moschee anzubringen. Man stelle sich vor, in Berliner Kirchen hinge so ein Kasten mit der Aufschrift „AKP-Alarm“ in blauweißem Rautenmuster. Auch wenn unser Bundespräsident von Haus aus Pfarrer ist, ginge das doch wohl entschieden zu weit. Ich habe bereits überlegt, den deutschen Botschafter einzuschalten, der ja im Nachbarhaus residiert, damit er sich offiziell gegen diese augenscheinliche Einmischung in innerdeutsche Angelegenheiten verwahrt. Andererseits finde ich nichts widerwärtiger als Denunziantentum. Und man will ja auch nicht, dass am Ende die, die wirklich Schutz brauchen, wegen der eigenen Prinzipienreiterei nicht mehr wissen, an wen sie sich wenden können.


Mehr Licht.

Erstaunlich, wie richtig Dinge falsch gemacht werden können. Schön ist auch, wenn man dann einen Moment lang gar nichts mehr versteht.

(Rumi Mehmet Paşa Cami, 1471)

Menschen in Moscheen 2.

Fast alle Moscheen werden übrigens regelmäßig und gründlich von ausgesuchtem Fachpersonal gereinigt, so dass man sich problemlos in der besten Hose oder seinem Lieblingskleid auf den Boden setzen und auch legen kann. Europäer sind das Leben auf dem Boden natürlich nicht gewöhnt, aber man lernt es schnell und wenn man es ein paar Mal gemacht hat, findet man es womöglich sogar angenehm. Ich jedenfalls denke schon länger darüber nach, die Sitzgruppen in der Wohnung abzuschaffen und auf den Teppich zurückzukehren.


Staunend verweilen.

Auch der Sommer wirft jedes Jahr neue Fragen auf, gerade, wenn man weit von zu Hause entfernt ist. Manche bleiben unbeantwortet, weil man weder die Maße des heimischen Balkons kennt noch einen Zollstock zur Hand hat. Gesetzt den Fall, es handelt sich um ein Kunstwerk, sähe alles ganz anders aus. Möglicherweise würde einem das, was man zu kennen glaubte, in gänzlich neuem Licht erscheinen. Zumindest müßte man eine große Entschiedenheit konstatieren. Vielleicht ändert jemand sein Leben deswegen. Ich weiß es nicht.


Menschen in Moscheen.

Die Moschee gilt vielen mittlerweile ja als der dunkle Ort schlechthin, wo die schrecklichsten Ungeheuer hausen. Ich habe von Deutschen gehört, die monatelang in Istanbul gewesen sind und so große Angst davor hatten, dass sie ohne türkischen Reiseführer keine einzige Moschee betreten haben. Da dachte ich, wo ich nun schon einmal hier bin und sowieso ständig in Moscheen herumsitze, wäre es vielleicht nutzbringend, eine kleine Reihe „Menschen in Moscheen“ zu beginnen. Schließlich ist das beste Mittel gegen die Angst vor der Dunkelheit weder die Psychotherapie, noch ein wissenschaftliches Buch, erst recht nicht das Zählen von Schäfchen, sondern einfach das Licht einzuschalten.

(Pertevniyal Valide Sultan Camii)

 

Matts Dee.

Unser Freund, der berühmte Land- und Streetart-Künster Matts Dee, ist zwischenzeitlich auch in Istanbul tätig gewesen. Auf halber Höhe des Bosporus hat er eine weitere, sehr subtile Arbeit zum Kreismotiv geschaffen. Anders als frühere Werke, die sich mit der vitalen, teilweise auch destruktiven Kraft von Kreisbewegungen beschäftigt hatten – man denke an die Installationen aus der Serie „Stop spinning circles“ –, nähert er sich der Thematik in Istanbul gleichsam von der entgegengesetzten Seite: Der Kreis scheint aus seiner Zerrissenheit zwischen zentripedalen und zentrifugalen Kräften herausgenommen und in eine finale Statik überführt worden zu sein. Lediglich die in der Linienführung angedeutete Perspektivkonstruktion vermittelt noch einen letzten Rest Bewegung, die freilich nicht mehr der ursprünglichen Prozessdynamik entstammt, sondern im Betrachter ein Bild stillen Versinkens im Sinne der Entropie evoziert.


Fallstricke.

Früher galten Gefühle als Privileg beziehungsweise Problem des Menschen. Im Hinblick auf die Tiere hat sich die Einschätzung, ob sie etwas wie ein Gefühlsleben kennen, inzwischen teilweise gewandelt, doch nach wie vor herrscht Einigkeit darüber, dass Sachen gefühllos sind. Wie steht es aber, wenn eine Sache offenkundig in der Lage ist, ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen? Kann man etwas zum Ausdruck bringen, was man nicht hat? Grenzenlose Verlorenheit und Stolz, zum Beispiel. Und wie soll ein Mensch darauf reagieren, wenn er eine Sache in einem derartigen Gefühlszustand antrifft? – Er kann ihr aufmunternd über die Rückseite streicheln und dazu etwas Freundliches sagen. Wahrscheinlich wüsste die Sache allerdings nicht, wie sie damit umgehen soll, sie ist Einfühlungsvermögen seitens der Menschen nicht gewöhnt. Andere Menschen würde eine solche Geste ohnehin eher befremdlich finden. Insofern ist es vielleicht doch das Beste, man schaut einfach weg.


Eid mubarak!

Ich wollte eine Tür fotografieren, die so vollständig verschlossen war, wie man es inzwischen nur noch selten sieht. Die meisten Türen heute sind einfach zu, und eine Tür, die zu ist, kann man aufmachen. Selbst wenn sie abgeschlossen ist, stellt es kein ernstes Problem dar, dann holt man den, der den Schlüssel hat – irgendjemand hat immer den Schlüssel –, er wird die Tür öffnen und Einlass gewähren. Kann sein, dass es jemand anderes ist, den er einlässt, vielleicht den Besitzer oder einen, der im Inneren bestimmte Aufgaben hat – jedenfalls sieht man, dass die Tür auf ist, und damit bewegt sich alles im Rahmen dessen, was man von einer offenen Gesellschaft erwartet. Allerdings ist der Rahmen dessen, was man erwartet, oft eng. Bei der Tür saß eine Frau so ausdrücklich, wie die Tür verschlossen war. Auch das ist heutzutage alles andere als üblich. Wie hätte ich von ihr verlangen können aufzustehen?

 

Dächer über Köpfen.

Obwohl oder gerade weil die gemauerten Häuser nie am bestmöglichen Ort stehen, niemals ausreichend Platz und erst recht keinen wirklichen Schutz bieten, werden ständig überall neue gebaut, immer weiträumiger und höher und nicht nur für uns: Sogar unsere Sachen, Autos zum Beispiel oder Kunst, überhaupt alles, was alt ist und nicht auf den Müll kommt, soll ein Dach über dem Kopf haben, wegen des wechselnden Wetters und wegen der permanenten Gefahr durch den Einsturz des Himmels. Die Erkenntnis, dass der Himmel nicht als Gewölbe auf Säulen ruht und im Prinzip nichts wiegt, hat das Gefühl der Bedrohung kein bisschen gemindert, selbst eine Statistik, geführt, seit Adam aus dem Paradies geworfen wurde, wie viele Menschen von Zeltstangen erschlagen wurden und wie viele von Dächern, würde nichts ändern.


Im Sitzen.

Überhaupt stellt das Leben in gemauerten Häusern eine beträchtliche Herausforderung an alle Beteiligten dar. Einer nicht unplausiblen Hypothese zufolge, ist der Mensch für das Umherziehen in offenen Savannenlandschaften geschaffen. Die meisten geistig-seelischen Verwerfungen des Individuums samt der aus ihnen resultierenden gesellschaftlichen Konflikte seien dementsprechend Folge des allzu langen Aufenthalts in geschlossenen Räumen. Pascal hingegen behauptete: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Man könnte sich jetzt dieser oder jener Ansicht anschließen, was aber wahrscheinlich falsch wäre.


Lauter Maler.

Die Malerei ist ja insgesamt eine der verbreitetsten und beliebtesten Kunstformen. Früher, als ich mich bei Gesellschaften oder Empfängen noch selbst als Maler vorgestellt habe, fand sich immer jemand, der auf mich zutrat und sagte: „ Ach, wie interessant und übrigens: Ich selber male ja auch.“ Mittlerweile passiert es sogar, dass Wände, Straßenbeläge, Eisenplatten und Abbruchflächen mir zurufen: „Schauen Sie mich an - ich male auch.“ Anders als früher freue ich mich jetzt immer darüber, denn selbst, wenn sie schlechte Maler sind - was äußerst selten vorkommt -, muss es mir nicht peinlich sein.

 

Schweigen.

Einige Stunden später wurden die Schreie zugedeckt. Viele waren nun nicht mehr sicher, welchen Gründen sie zustimmen und welche Zwecke sie ablehnen sollten. Einige fanden, dass die Anderen es sich zu einfach machten, während die Anderen Ersteren vorwarfen, es unnötig zu verkomplizieren. Von Beschönigung war ebenso die Rede wie von Schwarzmalerei. Man konnte sich nicht einmal darauf einigen, ob das Zudecken ein Akt der Gewalt oder eine Schutzmaßname gewesen sei. Kopfschütteln galt jedenfalls als Parteinahme im Sinne der Gegenseite und wurde von allen gleichermaßen verurteilt.

 

Schreie.

Es wird geschrien. Warum und wozu entscheidet jeder selbst. Wobei es vermutlich Etliche gibt, die wissen, was der wahre Grund oder Zweck des Schreis ist. Wenn wir sie fragen, werden sie es uns gerne verraten und ganz sicher sein, dass es genau darum und um nichts Anderes geht. Deshalb fragen wir lieber nicht.

 

Rüstem-Paşa-Cami.

Die Kaaba ist ein leerer, aus Stein gemauerter Raum. Drei Säulen in ihrem Innern tragen das Dach. Sie ist mit einem schwarzen, golddurchwirkten Seidengewand bekleidet, das jährlich erneuert wird. Erstmals wurde sie von Adam selbst errichtet, nachdem er das Paradies hatte verlassen müssen. Zeit und Sand ließen sie in Vergessenheit geraten, bis Abraham sie mit seinem Sohn Ismael wieder aufbaute als Haus für die Verehrung des Einen Gottes. Ismael und seine Mutter Hagar sind unmittelbar neben ihr begraben. Später wurde der Eine Gott von zahlreichen Figuren, Bildern, Totems zugestellt, bis Mohammed die Kaaba erneut ihrer ursprünglichen Bestimmung zuführte.

Man muss das nicht glauben, aber es ist auf jeden Fall gut, wenn man es weiß. 


Bettstätten.

Istanbul ist nicht New York: Es schläft. Nicht immer und auch nicht überall – man muß schon wissen wo, wenn man die Stadt im Schlaf beobachten will. Dort schläft sie dann aber so tief und fest und ruhig, dass sich Kissen und Decken nach dem Aufwachen von der Anstrengung erholen müssen, wenn sie nicht Burnout bekommen wollen.


Der Hydrant von Byzanz.

Endlich habe ich nun auch den Hydranten von Byzanz gesehen – eines der dreizehn Weltwunder der Moderne. Er ist in der Lage, binnen zwanzig Minuten Zweidrittel des Bosporuswassers in einer gewaltigen Fontäne über einem Areal von gut zwanzig Quadratkilometern niedergehen zu lassen und so Brandkatastrophen, wie sie in früheren Zeiten regelmäßig die Weltstädte heimsuchten, mit 97 prozentiger Wahrscheinlichkeit zu verhindern. Während meiner bisherigen Aufenthalte hatte ich den Hydranten jedes Mal aufgrund der knapp bemessenen Zeit von meinem Besichtigungsprogramm gestrichen, zumal ich auch fand, dass in der Epoche des Stahlbetons die Gefahr urbaner Feuersbrünste deutlich geringer geworden sei. Aber wenn man in einer alten Holzvilla lebt, umgeben von einem großen Wald, der während des Sommers in permanenter Gefahr steht, sich spontan selbst zu entzünden, sieht man die Sache natürlich anders. Am Abend dieses Tages bin voller Bewunderung für den früheren Oberbürgermeister von Istanbul, der den Hydranten in einer gewaltigen kollektiven Kraftanstrengung gegen erbitterte Widerstände, insbesondere infolge ausländischer Propaganda, errichten ließ.