Hönnepel, der Schnelle Brüter und ich

Als 1973 in einem Dorf namens Hönnepel nahe der Stadt Kalkar, der Grundstein für ein Atomkraftwerk gelegt wurde, das „Der Schnelle Brüter“ hieß, war ich sieben. Mein Vater hatte sein ganzes bisheriges Leben in dem Dorf verbracht und 1969 dort unser Haus gebaut. In den ersten Erinnerungsfetzen, die mein Gedächtnis aufbewahrt hat, herrschte Ruhe. Die Leute gingen ihren Beschäftigungen nach, waren katholisch und wählten CDU. Dann veränderte sich etwas: Aufregung, Feindseligkeit durchziehen die Bilder. Im Zentrum stand der Schnelle Brüter. Mein Vater glaubte außer an Gott an den Fortschritt und das Menschenmögliche. Er hatte sich von namhaften Professoren informieren lassen und wußte, daß es weder ernstzunehmende Zweifel an der Sicherheit der Kernenergie, noch an der Notwendigkeit ihrer Nutzung gab. „Angst ist Quatsch“, sagte er, und: „Ich will die Kadetten mal sehen, wenn der Strom weg ist.“


Die „Kadetten“ waren Langhaarige, die sich jetzt überall breitmachten. Sie opponierten gegen alles, prügelten Polizisten und hingen auch mit der Baader-Meinhof-Bande zusammen. Vor der hatte ich allerdings Angst. An den Küchen- und Stammtischen wurde aufgebracht über den Schnellen Brüter diskutiert, aber die wirklichen Gegner bekam ich nie zu Gesicht. Sie waren eine dunkle, gleichwohl allgegenwärtige Macht, und es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, daß sie nicht nur irgendwo in fernen Großstädten ihr Unwesen trieben, sondern mitten unter uns lebten. Eines Tages hatten sie einen Namen: Bauer Maas. Bauer Maas war selbst für einen ausgewachsenen Mann riesenhaft, er hatte eine weithin leuchtende Glatze und sprach wenig. Sein Hof lag nicht weit von unserem Haus entfernt, seine Frau fuhr mit meiner Mutter zum Kaffeeklatsch und zwei seiner Söhne gingen in dieselbe Klasse wie ich. Mir war nie etwas Verdächtiges an ihm aufgefallen. Offenbar hatte er sein wahres Gesicht viele Jahre vor uns verborgen. Dann hatte er im Kirchenvorstand zusammen mit drei anderen gegen den Verkauf kircheneigenen Landes an die Betreibergesellschaft des Brüters gestimmt, und so den Verlust immenser Verkaufs- und Zinserlöse für die Gemeinde verschuldet, nicht zu reden von den aussichtlosen Gerichtsverfahren, die in der Folge auf uns zurollen würden. Der Gipfel des Widersinns war, daß Bauer Maas und seine Leute sich als die wahren, freien Christenmenschen darstellten, denen die Gesundheit der Bürger und der Schutz der Natur wichtiger waren, als Geld und Gehorsam gegenüber Staat und Kirche. Der Generalvikar war so aufgebracht, daß er den rebellischen Kirchenvorstand kurzerhand auflöste und Neuwahlen ansetzte.


Mein Vater sprach jetzt ständig mit Leuten von der Zeitung, mit Radio- und Fernsehreportern, und erklärte, daß alles mit rechten Dingen zugegangen sei, und warum wir Kernkraft bräuchten. Ich war stolz auf ihn. Er hatte ein Kämpferherz und er siegte: Der neue Kirchenvorstand, dem er selbst angehörte, verhielt sich einsichtig und trat das Land ab. Die Brüter-Gegner sprachen von Manipulation, erklärten öffentlich, der Bischof habe das Gewissen durch Geld ersetzt. Bauer Maas grüßte uns fortan ebensowenig wie wir ihn, seine Frau durfte nicht mehr mit meiner Mutter ins Café.


Die Vernunft und das Gute hatten gesiegt, es hätte wieder Ruhe einkehren können, doch die Unterlegenen akzeptierten ihre Niederlage nicht und suchten sich Verbündete von außerhalb: Bei der ersten Großdemonstration, 1974, marschierten 10.000 Leute durch unser Dorf, von denen neunzig Prozent Holländer waren, die bei uns gar nichts zu suchen hatten. In den folgenden Jahren wurden die Demonstrationen immer größer und bedrohlicher. Sie führten nur hundert Meter vor unserem Haus vorbei und endeten in Kundgebungen auf dem Feld von Bauer Maas unmittelbar gegenüber der Baustelle. Die, die sonst in Frankfurt Straßenschlachten anzettelten oder in Amsterdam Rauschgift nahmen, reisten in Bussen an, um hier alles kaputt zu machen: So erklärte mein Vater den Aufruhr. An den Tagen vor den Protestmärschen kamen freundliche Polizisten und durchsuchten unseren Garten nach Gegenständen, die von Randalierern als Waffen mißbraucht werden könnten. Wir überlegten, Bretter vor die Fenster zu nageln. Bauer Maas stellte den Demonstranten eine Melker-Kate auf seinem Acker zur Verfügung, in der angeblich ein Informationszentrum eingerichtet werden sollte, aber wir wußten: Dort hauste ein verkommene Kommune, eine revolutionäre Zelle. Das Kind, das ich war, stellte sich vor, wie das Kommando um Knut Folkerts auf dem Weg nach Utrecht dort Unterschlupf gefunden hatte, und ich fragte mich, warum man all diese Leute nicht einfach einsperrte, damit wir wieder ruhig schlafen konnten.


Anfang der Achtziger Jahre fing ich an selbst zu denken und glaubte meinen Eltern kein Wort mehr. Meine Freunde, ältere Mitschüler, hatten ihre Ranzen mit „Atomkraft? - Nein Danke!“-Aufklebern beklebt, trugen Sticker „Stoppt Strauß!“ und in ihren Zimmern hing die berühmte Zeichnung „Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“. Sie gaben mir Broschüren der Anti-AKW-Bewegung und Greenpeace-Flugblätter, erzählten mir von Harrisburg, und von jahrzehntausende lang strahlendem Atommüll, für den es kein Endlager gebe, von der Hypothek die unsere Energieverschwendung nachfolgenden Generationen aufbürde. Was ich las und hörte, ließ mich an der geistigen Gesundheit und moralischen Integrität meines Vaters zweifeln. Ich wurde auch ein Kämpfer, aber - anders als er - für die wirklich richtige Sache. Ich grüßte Bauer Maas demonstrativ, wenn er auf seinem Traktor an unserem Haus vorbei fuhr. Am liebsten hätte ich ihm erklärt, daß ich auf seiner Seite stünde, doch es ergab sich nicht. Ich ließ mir die Haare wachsen, trug Palästinensertuch und stellte meinen Vater zur Rede. Seine Begeisterung für das Atomzeitalter war, ohne daß ich es bemerkt hatte, längst abgekühlt und seine Rechtfertigung lautete: „Damals dachte man halt so, wir brauchten die Arbeitsplätze, manches wußte man einfach noch nicht.“


Ich entgegnete, denselben Blödsinn würden die Leute auch antworten, wenn man sie fragte, warum sie Hitler gewählt hätten! Weil es in unserer Familie Dinge gab, die gewichtiger waren als Meinungen, zerbrach sie trotzdem nicht.


Als Tschernobyl explodierte, war der Schnelle Brüter so gut wie fertig, aber niemand wollte ihn mehr haben. Um das Gesicht zu wahren, schoben sich Landes- und Bundesregierungen gegenseitig die Verantwortung zu. 1991 verkündete der damalige Forschungsminister Riesenhuber das endgültige Aus. Ich machte mich über meinen Vater lustig, der inzwischen ebenso so froh war wie ich, kein Atomkraftwerk hinterm Garten zu haben. Er sagte: „Man kann ja seine Meinung ändern. Du änderst deine doch auch ständig.“


Jetzt, wo die Zeitungsausrisse vor mir liegen, die meine Mutter über all die Jahre gesammelt hat, sehe ich schwarz auf weiß, wie verzerrt und lückenhaft meine Erinnerungen sind. Abgesehen davon, daß ich die Nutzung der Kernenergie vor allem angesichts der Unberechenbarkeit des Menschen nach wie vor für unverantwortbar halte, stelle ich fest, daß das, was ich erst für die Wahrheit und dann für ihr Gegenteil gehalten habe, auch nur zwei Perspektiven von Dutzenden gewesen sind, die ich im Nachhinein wiederum von unterschiedlichen Standpunkten aus in den Blick nehmen kann. Jeder ergibt eine andere Geschichte, mit neuen Guten und Bösen. Welche richtig oder gar wahr ist, läßt sich heute so wenig entschlüsseln wie damals – vermutlich alle und keine. Für die Geschichten ist das auch unerheblich, sie bezeugen weder Recht noch Unrecht noch die Wahrheit, sondern das Nebeneinander von Versionen in ihrer Widersprüchlichkeit und die offenen Stellen dazwischen.

Heute befindet sich in den Gebäuden des Schnellen Brüters ein Freizeitpark mit Karussells und Riesenrad, der sich „Kernwasserwunderland“ nennt. Man kann sagen: „Wir sind noch einmal davon gekommen.“ Oder man kann darin ein Beispiel für die Auflösung eines Glaubenskriegs im Treppenwitz sehen, das Schule machen sollte. Ebensogut läßt es sich als Symbol für das Verschwinden der Diskurse im Unterhaltungsbetrieb lesen. Oder es zeigt einfach die vollkommen undurchdringliche Komplexität der menschlichen Verhältnisse. Daran ändert sich nichts.