Lailat al Kebira, Sayyida Zeinab, Kairo

Die große Nacht, Lailat al Kebira, ist der Höhepunkt des fünfzehntägigen Moulids zu Ehren Sayyida Zeinabs, der Enkelin des Propheten Mohammed, deren Grab sich bei der nach ihr benannten Moschee in Alt-Kairo befindet. Es ist eines der bedeutendsten religiösen Feste der Stadt, bis zu eine Million Pilger aus dem ganzen Land reisen an, um der Heiligen die Ehre zu erweisen. Über ihre Segensmacht und Wundertätigkeit kursieren die unglaublichsten Geschichten. Nicht nur Krankenheilungen und Traumgesichte sind überliefert, es heißt auch, daß in den Nächten, in denen sufische Gebetsübungen bei ihrem Grab abgehalten würden, andere Heilige früherer Zeiten – Hussein, Aisha oder Shafi’i – her- beigeritten kämen, sich zu beiden Seiten Sayyida Zeinabs niederließen, um gemeinsam mit ihr Ratschluß zu halten. Obwohl Wahabiten, Salafisten und Muslimbrüder jede Form der Heiligenverehrung als „unislamisch“ verdammen und deren Schlägertrupps zuletzt sogar in Ägypten Grabstätten demoliert haben – die Menschen strömen auch dieses Jahr wieder in Massen zusammen, um gemeinsam zu feiern, zu beten und den berühmten Sängern mystischer Lieder zuzuhören.

 

Schon anderthalb Kilometer vor der Moschee staut sich der Verkehr, so daß ich nach zwanzig Minuten, in denen mein Taxi sich kaum einen Meter bewegt hat, auf ausdrückliche Empfehlung des Fahrers hin aussteige und zu Fuß weitergehe. Vielköpfige Großfamilien kommen mir entgegen. Die Kinder, geschmückt mit eigens für das Fest bestickten Kappen, behängt mit Bonbonketten, quengeln, daß sie mehr Süßes, noch einmal auf die Schiffschaukel, das Karussel wollen, denn jenseits des religiösen Anlasses, ist der Moulid eine Art Kirmes oder Jahrmarkt – früher gab es Schlangenbeschwörer, Feuerspucker und Leute, die sich Schwerter durch die Zunge oder die Wangen gestochen haben. Der gesamte Moscheekomplex, einschließlich Kuppel und Minarett, ist weithin sichtbar mit vielfarbigen Lichterketten geschmückt. Es blitzt und blinkt wie beim Autoscooter. Bis tief in die Straßen hinein, die sternförmig von dem weitläufigen Platz abgehen, sind hell erleuchtete Buden aufgestellt, in denen Süßigkeiten, Nüsse, Trockenobst angeboten werden, dazu Barbiepuppen, Spidermann, Laserschwerter aus China und glitzernder Nippes aus heimischer Produktion.

 

Weihrauchschwaden steigen auf, kostbare Parfümöle werden aus kleinen Flacons auf Hände getupft, synthetische Aromasprays in der Gegend versprüht. Dazwischen harren gesenkten Hauptes Esel und Pferde bei ihren Karren aus, auf denen Melonen, Pfirsiche und Aprikosen aufgetürmt sind. Halbwüchsige klammern sich zu mehreren auf knatternden Motorrädern aneinander, durchqueren die Menschenmassen mit erstaunlicher Geschwindigkeit und ohne jemanden zu überfahren, was an sich schon ein Wunder ist. Mehr als daß ich entscheide, in welche Richtung ich gehe, versuche ich, mich in größere und kleinere Bewegung einzureihen, mich vom Strom dorthin tragen zu lassen, wo ich ankommen möchte.

 

Rund um die Moschee haben die verschiedenen Sufigemeinschaften große Hallenzelte aus bunt gemusterten Tuchbahnen aufgestellt, in denen bei vollem Einsatz archaischer Verstärkeranlagen unter Leitung des jeweiligen Sheikhs oder Meisters Dhikr gehalten wird: Gottesgedenken in Form stark rhythmisierter Gebetsformeln, deren endlose Wiederholung – ähnlich dem christlichen Rosenkranz oder buddhistischen Mantras – am Ende den Lärm der inneren und äußeren Stimmen zum Schweigen bringt. Manche Dhikr dauern Stunden und münden in etwas wie Tanz, ein Hin- und Herwiegen der Körper im Takt der Trommelschläge. Manchmal fallen Teilnehmer in Trancezustände, rufen oder stammeln, müssen gestützt oder aufgefangen werden. Zwischen den Zelten ist kaum Abstand, so daß an den akustischen Grenzen Schallwogen aus zwei, drei oder vier verschiedenen Lautsprechern aufeinander prallen. „Wer der Trommel lauscht, hört die Stille“ hat der Maler Georges Braque gesagt, und tatsächlich ahne ich hinter all dem Getöse plötzlich das Schweigen.

 

Vor zwanzig Jahren war ich zum ersten und bis heute nacht einzigen Mal auf einem Moulid. Er fand in einem anderen Kairoer Viertel statt, weit entfernt vom Zentrum mit den tausend Jahre alten Maqam und Moscheen. Alles war kleiner dort, regelrecht überschaubar. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an den Namen des Heiligen, zu dessen Ehren das Fest stattfand, aber der Gesang des Sheikhs damals, die Trommeln und Flöten, haben mich auf eine Spur gebracht, der ich seither mit langen Unterbrechungen und weiten Umwegen nachgehe. Das ist der Grund, weshalb ich heute hier bin – ohne irgend einen Begleiter, denn die meisten meiner ägyptischen Freunde haben mit Sufismus wenig im Sinn, für sie ist das „Volksislam“, fast schon Aberglaube, jedenfalls weit entfernt von den Realitäten moderner und aufgeklärter Kairener.

 

Ich komme an einer Bühne vorbei, wo zwei Trommler und ein Sänger den Rhythmus für eine Gruppe von Männern vorgeben, die sich in einer Art Schwerttanz mit langen Stöcken umkreisen und ritualisierte Kämpfe austragen. Ich weiß nicht, ob es sich um Religon oder Folklore handelt, was auch keine Rolle spielt, denn die Stimme des Sängers klingt warm, die Trommel gesammelt und vorwärtsdrängend zugleich, so daß ich ein Weile bleibe, höre, schaue, staune, ehe ich mich weitertreiben lasse.

Ich habe vor, in einem der Zelte am Dhikr einer hiesigen Sufi-Tariqa teilzunehmen. Von den Freunden konnte mir niemand sagen, ob die Zelte jedermann offenstehen oder ob der Zutritt Mitgliedern der jeweiligen Bruderschaft vorbehalten ist. Ich werde es auf einen Versuch ankommen lassen. Nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Sheikhs und Derwischen, nehme ich an, daß sie mich einlassen werden, schließlich stehen im Zentrum des sufischen Islam, der sich als Essenz aller Religion begreift, Gottesliebe und Herzensweite.

 

Ich schaue so neugierig wie nötig, so diskret wie möglich in die verschiedenen Zelte, an denen ich vorbeigeschoben werde. In einigen herrscht noch größeres Gedränge als draußen, die Leute stehen oder sitzen so eng beieinander, daß ohnehin kein Durchkommen wäre. In anderen ist gerade Pause, Schlafende liegen auf dem Boden, es wird in kleiner Runde gegessen, geredet, gelesen – da will ich nicht stören.

 

An vielen Zelten sind Transparente mit großen Portraitfotos der jeweiligen Sheikhs aufgespannt. Obwohl jeder von ihnen zumindest bei seinen Anhängern als heiliger Mann gilt, gefallen mir doch nicht alle gleich gut, und selbst wenn ich weiß, wie leicht das Auge zu täuschen ist, vertraue ich doch dem, was ich sehe. Nicht zuletzt wegen des leicht ironischen Funkelns in seinem Blick, betrete ich schließlich das Zelt eines Sheikhs, dessen Tariqa ich nicht kenne. Auch hier ist es schon ziemlich voll. Der Dhikr scheint eben begonnen zu haben, Zuschauer drängen sich im Eingangsbereich, weiter vorn sitzten die, die teilnehmen, die Männer auf dem Boden, die Frauen auf Bänken rund herum. Ich versuche es mit zurückhaltender Entschlossenheit, drängele mich behutsam an dem schnautzbärtigen Mann vorbei, der eine Mischung aus Türsteher und Platzanweiser zu sein scheint, und lasse mich ziemlich mittendrin zwischen zwei Männern nieder, die bereitwillig ein Stück zur Seite rutschen. Niemand stört sich an mir, im Gegenteil, mein Gegenüber nickt mir zu wie einem alten Bekannten. Vorne hockt ein Vorbeter oder Beauftragter des Meisters im Schneidersitz: ein extrem konzentriert wirkender Mann um die Fünfzig in weißem Gewand unter weißem Kopftuch. Er hat ein Mikrophon, in das er mit hoher Geschwindigkeit kurze Textstücke schmettert. Vielleicht rührt der Eindruck von Rauheit und Härte aber auch von den schadhaften Lautsprechern, der überalterten Verstärkeranlage her. Mit dem satt vibrierenden, melodischen Dhikr, den ich kenne, hat das hier nichts zu tun.

 

Einen Moment überlege ich, wieder aufzustehen und nach einem Platz im Zelt einer musikalischeren Tariqa Ausschau zu halten, doch ich mag das Gesicht des Einpeitscher-Vorbeters, seine Entschiedenheit und Schnörkellosigkeit. Nach wenigen Minuten merke ich, daß mir Worte und Phrasierungen zumindest teilweise vertraut sind. Es sind kurze Koransuren und -verse, überlieferte Gebete, Lobpreisungen, die heiligen Namen Gottes. Mein Sitznachbar reicht mir ein Buch mit den Texten, zeigt mir die entsprechende Stelle, scheint keinen Zweifel zu haben, daß ich dem Arabischen folgen kann. Die Melodien sind einfach, mehr gesprochene Rhythmusakzente als Musik, so forciert, daß meine Atmung keine andere Wahl hat, als sich einzufügen, wenn mir die Luft nicht knapp werden soll. Nach einer Weile scheint sich auch der Puls anzupassen. Wortkaskaden wie Hufe, die von Peitschenhieben vorangetrieben werden, keine Spur spirituellen Wohlgefühls oder räucherstäbchengeschwängerter Heimeligkeit, gleichwohl geschieht etwas im Inneren, befremdlich und vertraut, kraftvoll und sonderbar. Es findet weder auf der Ebene der Emotionen statt noch auf der des ästhetischen Genusses. Atem, der zu Sprache geformt wird, dabei mehr und mehr als das erscheint, was er immer ist: Der bewegte und bewegende Energiestrom, der mich am Leben hält und mit allem um mich herum bis an die Grenzen das Alls verbindet, ob ich es will oder nicht. Je länger es dauert, je fragloser ich mich darauf einlasse, desto stärker habe ich das Gefühl, mich auf dem Weg durch eine Art seelische Waschstraße zu befinden, und das Wort Gehirnwäsche bekommt eine neue Bedeutung: Wie mit scharfen Bürsten fegt es die eingestaubten, verklebten, vollgerümpelten Windungen meines Bewußtseins durch, pustet den gesammelten Dreck von Jahren heraus. Ich weiß nicht, wie es geschieht, trotzdem ist es ein Vorgang, dem ich nicht willenlos ausgeliefert bin, sondern zuschauen kann und zustimmen muß, ohne dabei in argumentative oder emotionale Abwägungen zu verfallen. Die Luft, obwohl annähernd 40 Grad warm und feuchtigkeitsschwer schmeckt leicht und frisch. Meine einwärts gerichteten Augen sehen ganz klar, und in dieser Klarheit gewinnt das, was die Inneneinrichtung meines Geistes sein muß, allmählich Konturen.

 

„Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn“, sagt der Naqshibandi-Meister Sheikh Esref Efendi, und Aufgabe des Dhikrs ist es, dieses „Selbst“ – das Erkenntnisorgan für das Göttliche – so zu putzen und zu polieren, daß darin tatsächlich etwas sichtbar werden kann. Für Momente, Minuten, Stunden scheint die Zeit auszusetzen. Irgendwann stehen alle auf. Rechts und links greifen andere Hände nach meinen Händen, die Bewegung des Herzschlags, des Atems wird zur Bewegung der Arme, des Körpers, der doch nur die Bewegung des Geistes nach außen trägt, während Fülle und Vielgestaltigkeit der Göttlichen Namen sich zu dem einen Allah zusammenziehen, unendlich oft wiederholt, bis er den ganzen Atem ausfüllt, sich im letzten Buchstaben, dem h, sammelt, Houwa wird, Er, der Namen jenseits aller Namen, der Klang des lebenschaffenden, göttlichen Atems selbst, aus und in dem alles Sein ist, Hauch und Sturm zugleich.

Dann plötzlich Stille. Al Fatiha, die Eröffnende, die erste Sure des Koran wird gesprochen.

 

Wir stehen wie benommen da, lächeln, grüßen die, mit denen wir bis vor wenigen Augenblicken auf dieser Reise in unendliche Weiten gewesen sind. Manche verlassen jetzt das Zelt, zwei Männer, die dazu gehören, sorgen dafür, daß wir anderen uns in kleinen Gruppen zusammen setzen. Der Vorbeter zieht sich in den abgetrennten Bereich des Zelts zurück. Von dort kommen junge Männer, bringen Becher mit Wasser herein. Gespräche beginnen. Zwei der Männer in meiner Runde sind vor fünf Tagen aus Oberägypten angereist. Sie wirken nicht besonders erstaunt, als sie hören, daß ich aus Deutschland gekommen bin. Teller mit Bohnen und große Blechtabletts mit Reis, gekochtem Lamm werden herein getragen. Ein kurzes Gebet, alle beginnen zu essen. Meine Sitznachbarn schieben mir die besten Stücke zu, da ich wohl den weitesten Weg hierher hatte.